Donnerstag, 29. Mai 2014

Auf der Suche nach meinem poetischen Ich

In den letzten Monaten sichte ich und sichte ich meine „Papiere“. Früher waren es Papiere, jetzt sind es natürlich Archive digitaler Dokumente in Verzeichnissen und Unterverzeichnissen mehr schlecht als recht geordnet.
Dabei ist einiges zusammengefasst in Form von Sammlungen mit provisorischen Buchtiteln. Eine Beinahe-Veröffentlichung ist auch dabei.

Leben und Schreiben – das sind bei mir zwei Tätigkeiten, die immer parallel laufen, doch nie harmonisch – keine mag die andere, jede braucht die andere, möglicherweise handelt es sich um eine klassische Hassliebe. Sie haben beide ihr eigenes Tempo und niemals das Gleiche. Mal ist das Leben dem Schreiben voraus, mal habe ich wieder etwas geschrieben, was noch gar nicht an der Zeit ist. Laufen sie beide synchron, was zum Glück sehr selten der Fall ist, dann ist es ein unglaublich langweiliger Zustand – das Leben wird fast problemlos zum Wort und jedes Wort, das mir einfällt, kann gelebt werden. Viele Menschen halten dies für die Definition des Glücks – es ist nicht mein Glück. Neugierig sein, neugierig bleiben und eine Sehnsucht nach dem Unbekannten pflegen und dies unstillbare Verlangen bei sich hüten, wie einen Schatz, den niemand stehlen kann – das gehört eher zu meinem Glück.

Im Grunde könnte ein Pedant einwenden, aber Leben sei keine freiwillige Tätigkeit und damit im Grunde gar keine Tätigkeit, die sich als Tätigkeit ja erst dadurch von allem Geschehen unterscheidet, indem man diese aus freiem Willen sich aussucht und wer ist schon aus freiem Willen am Leben? Und ein anderer Pedant könnte ebenfalls einwenden, dass Schreiben und sich Bezeugen im Grunde auch keine Tätigkeit ist, sondern eine Erzeugung von Zeichen, so wie überall in der Natur Formen und Strukturen entstehen, die aus mehr oder weniger komplexen Mustern bestehen, so auch alles Geschriebene, also auch dies keine ausgesuchte, frei gewählte Tätigkeit ist. Als Drittes kommt jemand hinzu und sprengt willkürlich die Runde mit den Worten: euer unbewusstes Gefasel über die Natur der Freiheit widert mich an – handelt oder schweigt! Es könnte ein Nachfahre des jungen Goethe sein, der seine ersten literarischen Weihen in der Zeit empfing, die man später die Zeit des „Sturm und Drang“ nannte.

Die Sprache meiner Epoche ist die des Sturm und Drang – nie war die Deutsche Sprache stärker, frischer, schöner – bei Heine wird sie bereits ironisch gebrochen, zeigt Alterserscheinungen – natürlich auch Reife – Heine, Nietzsche, Rilke haben sie unendlich verfeinert. Ich mochte jedoch diese spätere Einbuße an Kraft und wenn man so will die Einbuße am Idealismus aus Inhalt und Form nicht mehr hinnehmen und so kehre ich in meiner Poesie immer wieder zum Stil des Sturm und Drang zurück, wie zu einem Brunnen, aus dem ich stets erneuert wieder hervortrete.

Im Lichte dessen, so deute ich das bisher gesagte, erscheinen mir die Probleme, die ich mit vielen meiner bisherigen, vor allem älteren Gedichten habe – sie mal besonders gut, dann wieder besonders schlecht zu finden – der Tatsache geschuldet sind, dass ich im Urteil über mich schwanke. Ist Erinnerung nicht ein permanentes zu-Gericht-Sitzen über sich selbst? Es ist jedenfalls eine wahre Mühsal sich mal frei zu sprechen und dann doch wieder für schuldig zu erklären.

Diese Last endlich abzulegen ist der Grund dieser Vorrede und eine wahre Wohltat. Das Urteil ist ein für alle Mal gefällt: es sind Jugenddichtungen, die stilistisch selbst unentschieden sind, noch schwanken, jedoch ihre poetische Begründung haben, also werde ich einige davon hier präsentieren. Und damit jedermann weiß welche Lebensspanne diese meine „Jugend“ betrifft, so sei hiermit gesagt, dass ich zwischen dem zwanzigsten und fünfunddreißigsten Lebensjahr als Jugendlicher gedichtet habe – davor habe ich bloß Wissen erworben, die Sprache vor allem gelernt und geübt.


AN DIE BILDUNGSGLÄUBIGEN

Gefräßige Klarheit des Gedankens,
Wie schneidest du in unser schwaches Fleisch
Und ohne Gnade tief unter der Haut,
Die Wahrheit blutend zerrst ans Licht,
Wo sie, die Schattenhafte, nicht leben kann.

Und ohne Furcht siehst du dem Sterben zu,
Das die Vernunft dem Leben schenkt,
Als würde sie ihm Ewigkeit versprechen
Im Leichentuch einer Erkenntnis.


KOSTBARKEIT

Das Licht vertreibt nicht das Dunkle.
Was namenlos, verborgen in uns ruht,
Das kapselt sich ein, wird tiefer vergraben,
Vom Licht gejagt, wie scheues Wild
Flüchtet es in immer dunklere Wälder.
Und immer dichter wird das Gestrüpp,
Und immer ungangbarer der Weg,
Doch weiter gejagt und beinah zerdrückt,
Gehärtet vom Licht in der größten Stille,
Strahlt es wie ein Diamant in der Einsamkeit.


DUMMHEIT

Wie eine Welle erfasst die Dummheit die Menschen.
Sie hebt sie in die Höhe und reißt sie in die Tiefe.
Sie vernebelt ihre Gehirne mit Riten und Schwüren
Und schickt sie lächelnd und glücklich in den Abgrund,
Und so im Sturz ihres ausgehöhlten Lebens
Ahnen sie nichts vom eigenen Verlöschen,
Das dunkler bleibt als eine sternenlose Nacht.


LIEBENDE SEELE!

Die Lebensgeister alle aufgeschreckt!
Rasende Stürme meines Blutes!
Pochendes Herz, die Angst auf meiner Stirn geschrieben!
Und alle Glieder zitternd vor Ungeduld!
Als wollte alles in mir zum Sprung ansetzen –
Zum weitesten Sprung, so weit und schnell,
Dass ich aus der Sonne Licht
Und dem Schatten selbst entfliehen wollte!

Dein Blick betäubend! –
Aus vollem Lauf und ausgestreckt –
Die Krallen einer Pantherin,
Die in weiches Fleisch gekrallt,
Leidvolle Tränen warmer Sehnsucht fließen lässt
Und den durstigen Boden mit Liebesqualen tränkt!

Der Fluss der Zeit gerät ins Stocken.
Die Stunde und der Tag – sie gehen nicht!
Zu kostbar ist ein einziger Augenblick!
Und voller Pathos, voller Agonie
Kreuzen sich unsere Blicke machtvoll,
Wie die blanken Klingen von Schwertern!

Dich nicht zu sehen, dein Anlitz zu entbehren,
Wäre verbrecherisch, so sagt mir mein Verstand,
Doch nicht nur er, der ungestüme Sprecher –
Das ganze Leben ruft mir deinen Namen!

Als hätt’ Odysseus seinen Weg am Ende doch verloren!
So dich zu missen, dich zu verleugnen wäre:
eine grauenvolle Tat, die zu benennen Worte fehlen
– ein zweiter Sündenfall durch unsere Schuld!


AM HORIZONT

Auch die Natur und die, die sich natürlich finden,
Machen auf mich den Eindruck von Mimen,
Die mehr schlecht als Recht, wie Hülsenfrüchte,
Ausgetrocknet und eingepackt, verstaut im Regal
Warten, dass jemand sie kauft und aufkocht.

Am Horizont der Natur herrscht eine Kraft,
Die jedes Auge blendet, jeden Laut verschlingt,
Den stolz-gestreckten Hals zerbricht,
Den prächtigsten Wald verbrennt
Und höchste Berge zu Staub zerfallen lässt.

Unter diesem Horizont gibt es nur eitle,
Von Angst zerfressene und aus ihr Lebende –
Geschöpfe, die leben wollen und sterben müssen!
Geschöpfe, die genießen wollen und leiden müssen!

Unter diesem Horizont begrüßen sich all jene,
Die ihre Existenz nur leihen und jammervoll
Und ohne Lohn und Hoffnung wieder abgeben.


RUSSLAND

Wertvolle Seelen mit wertlosen Körpern
Furchtvolle Wurzeln der Nostalgie
Unter dem strengen Blick der Geschichte
Tastet deine zitternde Hand der Zukunft entgegen!

Menschen in Schmerz und Geist vollendet
Ihr legt euch selbst in die Teller
Und mit einem Wässerchen spült ihr
Die grausame Mahlzeit hinunter!

Die Stolzen und Freien – ihr liebt sie, ihr tötet sie.
An ihren Gräbern beweint ihr mit schönen Versen
Die Helden des Mütterchen Russland, die allesamt
Im Tode all das euch schenken, was ihr nicht habt.

Weit ist das Land, doch blickt in die Enge
Voll Zorn und Gier das Volk mit unstillbarem Durst
So kämpft es mit Lügen gegen den sonnigen Blick
Und umarmt die Dunkelheit wie eine Geliebte.


DITHYRAMBUS

Gib nicht dem Wein die Schuld,
Dass du dem Rausch in dir
Nicht treulicher kannst dienen
Als durch den Saft der Traube.

Gib nicht dem Mensch die Schuld,
Dass du die Freude in dir
Nicht unbeschwert entfachst
Als durch die List der Musen.

Die hohle Nuss, die Kopf du nennst
Wird jauchzen und frohlocken
Weil du den allzu schweren Geist
Bald lallend lachend fortgejagt!

Füll nur dein Glas randvoll und trink
Und jeder sei dir Bruder, Schwester
Und trink schnell aus und fülle ein
Bis Freund du unter Freunden bist!

Nun sieh dir an den wahren Gott,
Der dich aus allen Augen sieht,
Der zu dir spricht mit allen Stimmen
Und lebt, um deinen Durst zu stillen!

KUSS

Wenn sich ein Spalt in den Wolken öffnet
Und das Licht bricht durch.
Wenn sich die Erde mit dem Himmel vereint,
Wie die Lippen mit Zungen aus Gold.
Wenn ein feuchter Wind mit Kälte und Wärme
Seinen wilden Tanz entfacht,
Der enge Raum die Erde in sich schließt,
Und die Wogen des Meeres und alle Kräfte der Natur
In einem Strom zusammenfließen –
Küsse ich dich!

Wenn Sonne und Mond gleichzeitig am Himmel steh’ n
Und die Welt aufhört sich zu drehen.
Wenn Tag und Nacht sich heimlich treffen,
Wie wenn die Zeit aufhört zu sein.
Wenn du und ich gemeinsam trinken
Aus unserer Körper eignen Bechern
Und Herz auf Herz im selben Takt,
Der Schlag auf Schlag in uns ertönt,
Ein Lied von dir und mir uns singen –
Küsse ich dich!

Wenn alle Worte falsch, Gedanken Lügen sind
Und frisches Leben ungeteilt entsteht.
Wenn alle Wege eins, glühende Wangen Bäuche sind,
Wie wenn das Fieber durch sie brennt!
Wenn nichts mehr trennt, kein Leben und kein Tod
Und keine Lunge Luft, kein Auge Licht mehr braucht,
Die Sinne jeden Augenblick ganz neu entsteh’ n
Vergangnes lebt, Zukünftiges rast herbei,
Den Samen aller Dinge in weiche Erde tief zu senken –
Küsse ich dich!

Und zuletzt bringe ich meine Version der Shades of Grey - nur poetisch und philosophisch, aber Poesie in deutscher Sprache, wie sie vielleicht heute möglich ist oder sollte ich sagen "möglich sein sollte"...
Darin deutet sich bereits ein Übergang an. Wenn ich auch betonen muss, dass ich heute ganz anders klinge.

Vor Jahren als ich in der ostwestfälischen Provinz gestrandet war, wie ein junger unerfahrener Walfisch, da geriet ich auf Gedeih und Verderb in die Abhängigkeit des Internets. Das ging sogar soweit, dass ich im Internet live zu dichten begann und aus diesem Stream entstand in seinem Kern in wenigen Minuten folgendes Gedicht, das meinen inneren Aufruhr über die kollektive Vernetzung, die täglichen Lawinen des Wahnsinns und Blödsinns mit mehr als deutlichen Worten zum Ausdruck bringt:


DER TÖDLICHE STRANG
(Stimme aus dem Schatten)

Eingezwängt in endlose Reihen
Von Ahnen und universellen Bahnen.
Strich für Strich, Zug um Zug –
Silbrig glänzen die geschmiedeten Fesseln,
Fröhlich blöken die Kälber der Kultur!

Gift will ich sein und Stachel,
Brennende Seelenqual des Geistes
Einer verblassenden Zivilisation,
Die jedes Bild und jeden Ton
Tiefer schreibt und tiefer brennt
In unser geschundenes Fleisch!

Du duckst dich und was du denkst
Ist schuld daran, dass unser Himmel
Tiefer hängt als manche Decke
In unseren urbanen Käfigen,
Die wir Wohnungen nennen –
Wir Termiten des Humanen!

Manche Menschen glauben und dichten,
Um die verhängnisvolle Gemeinschaft
Von Wiederkäuern, die sie sind –
Auch noch zu bestätigen!

Manche aber – sie dichten,
Um nicht den zu töten, den sie hassen,
Um dem Himmel sein Blau zu schenken,
Und dem Abendrot sein leuchtendes Rot,
Um das Leben Stück für Stück
Herauszuzerren aus diesem Massengrab!

Eitel kriecht und gräbt der Maulwurf,
Gierig frisst er sich durch die Fäulnis der Erde.
Und während er glaubt Maulwurf zu sein,
Ist es ein Mensch, der liest, der hört, der sieht
Bücher wie Daten frisst, Gedanken verschlingt,
Blind geboren, mit leeren Augenhöhlen
Auf denen alte geronnene Farben kleben
– so scheidet er aus in der Dunkelheit!

Zerknitterte Seele – du solltest noch ein Lied
Erfinden, das den Staub, den letzten Flug –
Eines Gedankens, der einst so schön, so mutig war
Wie einen Schmetterling einfängt – und leben lässt!

Trink noch einen Schluck, damit du dem Tod
Noch einen Rausch als Abschiedsgruß
Auf die zerrissenen und blutigen Fersen wirfst,
Wie ein Wolf sich wirft auf das lahme Wild,
Wie ein Hai sich in die Rippe verbeißt,
Wie ein Weib sich wirft auf den Mann!

Diese Worte um mich, um euch, um uns!
Fade und blass, abgelegte Kleidungsstücke
Fremder Seelen, die sich nie begreifen konnten
Und nun zu Simulationen, Zerrbildern
In den Deponien unserer Zivilisation wurden!

Nichts ist so süß und verführerisch wie Du!
Ich sehe das wilde Flackern des Abgrunds in deinem Auge!
Das Leben ist der Bankrott der Existenz.
Und wenn wir uns gleich der Liebe hingeben,
Dann singen wir mit schmerzverzerrten Lippen
Mit Bissen und Flüchen bedecken unsere Körper,
Durchdringen uns mit den Bajonetten der Leidenschaft!

Doch diese Zeit, diese Komödie – sie sieht nicht,
Wenn Mordlust den Clown befällt und Dummheit
Sich in prächtige Gewänder hüllt!

Aber selbst wenn die Wahrheit zu uns käme
Nackt und verführerisch, duftend nach Rosen,
Mit ihren Blütenkelchen voll süßem Nektar,
Mein grausamer Bruder – wir sollten sie warnen,
Du und ich, obwohl wir uns hassen – wir beide –
Würden sie für das Geringste opfern - aus Gefälligkeit.

Bleiern, brodelnd, Licht-würgend zieht der Schatten
Um die Friedhöfe des Lichts seine eisigen Bahnen!
Über den Meeren schwarzen Wassers dröhnt
– ein schwebender Maschinengesang!
So werfe ich dies Gesicht,
Das nicht mehr meins ist,
In ein tausendjähriges Nichts!

Nun zum Glück dauerte dieses Nichts nur sieben und nicht tausend Jahre und war durchaus keine Vakuole voller Ereignislosigkeit. Dieser Landstrich half mir meinen Blick zu schärfen über jedes nur erdenkliche oder sollte ich nicht ehrlicherweise sagen "anständige" Maß hinaus?

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