Freitag, 5. Juli 2013

Bemerkungen zur Musik Gustav Mahlers

SAN 2008
Es ist ein Durst in unseren Worten, der nur durch Worte gestillt werden kann, ein Durst in unseren Gedanken, der dem Flügelschlag eines Genius oder Engels gleicht - unendlich sanft in seiner Zartheit, unausweichlich in seiner Klarheit.

Wir brauchen das hörbare Wort, das uns erklärt, verkündet, das Wort, das unser Erleben deutet und damit werden wir, mit dem Wort-Laut im Ohr in das "Gefüge" einer Welt gestellt, das nicht starr und schwer ist, sondern leicht wie ein Windhauch.

Durch Mahlers Musik erfahren wir unmittelbar, erleben am ganzen Körper, dass wir mehr Schwingung, Klang und Laut als schwere Materie sind. Menschen sind Klangbilder, klangmelodisch und onomatopoetisch Durchdrungene, wenn sie sich wahrhaftig zu empfinden lernen. Die Selbstentdeckung, zuweilen Selbsterfindung findet immer in einer Art "Konzertsaal" statt. Viele Hörer der Musik Mahlers berichten, dass seine Musik nicht nur schön, dramatisch und anregend war, sondern sie in ihrem innersten Kern verändert, aus ihnen neue Menschen gemacht habe.

Der "Konzertsaal" ist die tönende Weltkuppel unter der wir die Vision des eigenen Lebens in Tönen empfangen. Diese so reale Magie musikalischer Empfindung verwandelt nicht nur auch die eigenen vier Wände in einen allumfassenden Kosmos, sondern setzt das Subjekt wirklich frei. Das Sich-Einfügen und Sich-Einrichten irgendwo auf dem Planeten ist die gewöhnlichste Ambition eines jeden Lebewesens - diese Musik steigert hingegen unser Wollen, steigert alle Sehnsüchte ins Unermessliche - there is no last frontier anymore - space is, has been our only nursery. Befreit von jedem einschränkenden Kontext von Welt schweben wir als Fixpunkte unter den Sternen, bereit alles zu ignorieren oder alles zu verantworten. So ist die objektive Wirkung von Mahlers Musik die Entfesselung des Selbst, die radikale Methode, um Freiheit zu verstehen durch: Horchen, Lauschen, Hoffen und Bangen auf das nächste Klangereignis wie auf einen Schicksalsschlag und Richterspruch über das eigene Leben.

Der Stil musikalischen Ausdrucks, mit dem solch Unerhörtes und Unerlebtes erklingt, ist vielleicht denkbar einfach: die konsequente Gegensätzlichkeit musikalischer Mittel bis zum Selbstwiderspruch, worauf Leonard Bernstein in seinem Aufsatz "Mahler – His Time Has Come" mit eindrucksvollen Worten hingewiesen hat. Er sprach von wahnsinnig gewordenen Chören, Pausen, die den Todesstoß vorbereiten, komplexe Polyphonie und kitschigen, seligmachenden Walzer- und Naturidyllen und alles oft in einem Werk, ja in einem Satz. Der Spannungsbogen muss weit genug sein, damit Platz für eine Welt entsteht - der Verdacht dem symphonischen Schaffen Mahlers liege eine philosophisch-ästhetische Dialektik zugrunde drängt sich geradezu auf.

Keiner hat diese höchste Form von Selbstwerdung schöner und intelligenter beschrieben als der Philosoph Peter Sloterdijk im ersten Band "Blasen" seiner Sphären-Trilogie in Kapitel 7 "Das Sirenenstadium – von der ersten sonosphärischen Allianz" – nebenbei gesagt ist dieses ganze Kapitel ein Wunder in deutscher Prosa, etwas, das man vielleicht den Franzosen zugetraut hätte, das aber überraschenderweise auf Deutsch möglich wurde. Doch hört selbst:

"Ich bin ein Tonbild, ein Vers-Blitz, eine dithyrambische Regung, gerafft in einer Anrede, die mir von früh auf vorsingt, wer ich sein kann. … Von der Antike an sind geschichtete Gesellschaften ruhmverteilende Systeme, die ihre öffentlichen Chöre mit den intimen Liederwartungen der Einzelnen synchronisieren. … Ich bin das Aufschäumen, der Klangblock, die befreite Figur, ich bin die schöne, die kühne Stelle, ich bin der Sprung in den höchsten Ton; die Welt klingt nach mir, wenn ich mich zeige, wie ich mir versprochen bin."

Wohin also nun mit Mahler? Oder hieße es besser wohin mit uns?
Mahler lebt als ein Löwe der Musik mitten unter uns. Die, die um seine Intensität wissen, hüten sich ihn zu oft aus seinem Käfig zu lassen, denn wenn er in die Manege unserer Gegenwart springt, raubt er uns alle kleinlichen und ängstlichen Gedanken hinter denen wir uns so oft bequem einrichten und gibt uns die Kraft das zu vollbringen, zu dem uns der Mut zuvor gefehlt hat.

Doch zu guter Letzt soll Mahler selbst zu Wort kommen und uns verraten, wie er seine Orchestermusiker auf die Musik vorbereitet – für mich klingt es nach einer Mischung der Filme "Fear and Loathing in Las Vegas" und "Fight Club" – Mahler:

"... durch den Terrorismus, durch den ich jeden einzelnen zwinge, aus seinem kleinen Ich herauszufahren und über sich selbst hinauszuwachsen."

(Bauer-Lechner, Erinnerungen an G. Mahler)

Müssen wir vor dieser Mischung aus künstlerischer Kraft und Naivität nicht ordentlich schmunzeln und sind wir unter unserer verlegenen Grimasse nicht ungeheuer neugierig – nein nicht auf die Musik – neugierig auf uns selbst geworden?

PS: Wer jetzt glaubt, hier wären sämtliche metaphorischen Pferde mit mir durchgegangen, wenn ich Mahlers Musik derart extrem ins Anthropologische und Kosmologische deute, dann will ich, um Zweifel im voraus zu vermeiden, ihn selbst noch einmal zu Wort kommen lassen und zwar mit dem, was er seinem Freund Mengelberg über seine 8e Sinfonie in einem Brief schrieb:

"Es ist das größte, was ich bis jetzt gemacht. Denken Sie sich, dass das Universum zu tönen und klingen beginnt. Es sind nicht mehr menschliche Stimmen, sondern Planeten und Sonnen, welche kreisen. ..."

Keine Kommentare: