Lucy (Scarlett Johanson), so der Name
einer relativ naiven, relativ braven, relativ netten Studentin, der es
beschieden ist durch einen aufgeplatzten Drogenbeutel in ihrem Bauch im Laufe
des Films sich in ein gottähnliches Wesen zu verwandeln. Zusammen mit einem
Anthropologen (Morgan Freeman) beobachtet sie und damit auch das Publikum die
anwachsende Leistungsfähigkeit ihres Gehirns, die in Prozent ab 10% bis zu 100% von Kapitel zu Kapitel hochgerechnet wird und dies im Stil eines Leitmotivs, das
sich durch alle Szenen zieht und so dem Ganzen trotz Rückblenden eine
linear-progressive Struktur verleiht. Dabei sollten wir vereinfacht
annehmen, die zunehmende Leistungsfähigkeit des Gehirns käme vom enormen
Anstieg neuronaler Verschaltungen und dieser wäre ausgelöst von der Droge.
Dass solche Verschaltungen
inhaltsleer bleiben müssten, wenn nicht zeitaufwendige Lernprozesse diese erst
auslösten, ist eine Tatsache auf die das geneigte Publikum nicht allzu sehr
beharren sollte. Nehmen wir den günstigsten Fall an, dass auch jeder
Lernprozess durch die Droge fast unbegrenzt beschleunigt wird, so dass die
wenigen Tage, die der Film beschreibt, tatsächlich für die Gottwerdung Lucys
ausreichen.
Die Fabel von der wundersamen Zunahme
der Intelligenz von Lucy lässt sich am besten als Allegorie für die
Möglichkeiten menschlicher Entwicklung betrachten, die sich im Bild der
Apotheose Lucys, ihrer bis zur Allmacht sich steigernder Kräfte
versinnbildlicht. Man könnte fast meinen Besson sucht filmisch einen Weg
säkulare Heiligenlegenden zu erschaffen, aber ist das nicht etwas, was seit geraumer
Zeit nur im Film, mit dem Film und durch den Film noch möglich ist? Ich denke
da an die Märtyrer-Legenden eines Rambo (Rambo), Fallon (Auf den Schwingen des
Todes), Neo (Matrix) u.a.
Die Spezialeffekte und Action-Szenen
fallen dadurch wohltuend auf, dass sie gut genug sind, um dem Film zu nützen,
und gleichzeitig in einem Maße gewohnt, dass der Film nicht quasi auf Krücken
mit ihnen zu gehen hat, sondern auch zu seiner Botschaft Zeit findet.
Im Wesentlichen haben wir es hier mit
dem Versuch zu tun den Historismus des 19. Jahrhunderts in die Gegenwart zu
übertragen. Die Gegenwart erzeugt historisches Bewusstsein im großen Stil, das
heißt mit Massenwirkung über Dokumentationen im Fernsehen und mit Filmen zu
historischen Stoffen im Kino. Wenn es sich um gutes mediales Material handelt,
so enthält es zumeist eine plausible, die Bilder und Vorstellungen verbindende
Erzählung. Luc Besson hat viele Dokumentationen gesehen - das wird an den viel
zu langen Bildfolgen mit naturkundlichen Material deutlich. Darüber hat er
leider - so scheint es - alle Lust verloren eine Geschichte zu erzählen. Aber
nur durch die Geschichte, die Erzählung vermögen wir das Kontinuum - den Zeit,
Raum und alle Dinge umspannenden Zusammenhang wahrzunehmen, zum Beispiel auch
einen Film als Kunstwerk zu genießen. Hier wird eine gravierende
Strukturschwäche des Films sowohl formal als auch thematisch sichtbar, was den
Genuss leider deutlich stört.
Die Lucy von heute begegnet im Zuge
der Zunahme ihrer Fähigkeiten der Lucy aus der Prähistorie der Menschheit und
zitiert dabei ebenso symptomatisch wie peinlich Michelangelos Erschaffung
Adams. Die Begegnungen mit allen möglichen Zitaten (und viele Szenen wirken nur
wie Zitate und niemals echt!) aus der Natur- und Menschheitsgeschichte bleiben
weit unter dem Niveau guter Dokumentationen. Bestenfalls sind es experimentelle
Kollagen, die mehr Verlinkungen gleichen als dass sie für sich sprechen würden,
aber wie könnten sie auch? Sie bekommen keine Spielzeit von Lucy, der Gottheit
oder ist es doch Besson, den hier kreative Atemlosigkeit erfasst hat? Hat er
den Film mit Wikipedias Hypertext und nur als Hypertext gemacht? Aber Hypertext
ist kein Erzähler und keine Erzählung - es ist nur ein Rhyzom, ein Geflecht,
das der Interpretation bedarf. Besson hat sich zu sehr beeilt. Sein
universeller Film hätte deutlich mehr Zeit für Geschichte und Charaktere
gebraucht. Hier teilt sich LUCY eine ähnliche Strukturschwäche wie der Film
„Lola rennt“ von Tom Tykwer, dessen amerikanisches Original „Und ewig grüßt das
Murmeltier“ zeigt, wie man es richtig macht…
Allzu häufig ersetzen Bildfolgen die
Reflexion und wage Andeutungen die Narration. Symptomatisch fragt an einer
fortgeschrittenen Stelle der Handlung der Polizist, der Lucy begleitet, seine
Partnerin, ob er ihr überhaupt zu etwas nützlich sei. Sie daraufhin küsst ihn
und sagt: "als Erinnerung". Womöglich ein Judaskuss der Fiktion über
die Realität, die in diesem Film stiefmütterlich wie etwas kaum noch Existentes
und eigentlich längst Vergangenes behandelt wird. Wie sollte auch ein Wesen,
das sich anschickt Gott zu werden die Realität der kontextbezogenen, im Kontext
gefangenen Wesen ernst nehmen können?
Doch auch diese Chance einer
lachenden Gottheit hat Bessons Armut an erzählendem Geist vertan.
Der Film stellt zumindest einige
richtige Fragen. Die wichtigste: was ist der entscheidende Faktor, der sowohl
die biologische Evolution des Lebens als auch die physikalische Evolution des
Universums grundlegend bestimmt? Antwort des Films: die Zeit.
Wer die Welt beeinflussen und
wirklich gestalten will, der muss die Zeit vorwärts und rückwärts beherrschen.
Wenn die Welt, die Summe aller Wechselwirkungen von Energie und Materie ist und
jemand durch Kontrolle der Zeit auf alles wirken kann, dann ist dieser Jemand
ein allmächtiges, allgegenwärtiges, allumfassendes Wesen - ein Gott. Strebt die
Menschheit mit ihrem Potential auf diesen Zustand zu und gehört Lucy nur zur
Vorhut? Sind wir Menschen nicht längst (frei nach Hegel) der Weltgeist, der
sich durch die Menschheit erkennt und immer deutlicher erkennt, indem er durch
uns auf alles wirkt?
Besson hat Lucy, diesen Film gemacht.
Seine Grundidee ist sehr gut - die Umsetzung eher mangelhaft. Lucy ist ein
Film, der keine Zeit fand ein Meisterwerk zu werden und damit vielleicht der
Realität auch und gerade in seinem Scheitern oder drücken wir es ästhetischer
aus in seiner “Offenheit” ähnlicher ist und näher gekommen ist, als uns lieb
sein kann.
Irgendetwas scheint Besson jedoch abgelenkt
zu haben oder er ist bereits zu sehr ein Speed-Junkie geworden und schon längst
kein Filmemacher in Europäischer Erzähltradition mehr? Was ist aber das
Zelebrieren der reinen Geschwindigkeit, der reinen Zeitbeherrschung ohne das
Interesse für die einzelnen Etappen der Transformation, ohne das Interesse für
die evolutionären Schritte von Materie und Leben? Das ist die reine Dummheit in
der Banalität von Anfang und Ende. Bessons Fehler bei allem handwerklichem
Können ist nun, dass er diesen tollen Film zu kurz gemacht hat. Auch hier gibt
es ein amerikanisches Gegenbeispiel, wie man es besser macht: „Interstellar“.
LUCY jedoch ist auch als misslungenes
Meisterwerk sehr interessant und daher äußerst lehrreich und sehenswert!
Möglicherweise ist dieser Film auch eine unfreiwillige, also indirekte Warnung
an all jene, die das Heil im Rausch des absoluten Kicks suchen. Dort, im Topos
des Kicks, der Kulmination ekstatischen Genusses an der Schwelle der
Überreizung und höchsten Lebensgefahr wartet immer die Aufhebung aller Bezüge
von Zeit und Raum - das Nichts.
Dieses Nichts ließe sich am besten
als Nihilismus beschreiben von Menschen, die mit ihrem Leben nichts anzufangen
wissen und in der emotionalen Verkleidung der Langeweile, sich in lebensmüden
Aktionen mit Hilfe von Drogen oder Extremsportarten erschöpfen.
Den Vorwurf muss man ihm letztlich
doch machen, dass Besson sich dessen schuldig gemacht hat, die Komödie
menschlicher Dummheit oder die Dummheit alles Lebendigen sogar nicht deutlich
genug dargestellt zu haben und insgesamt zu nett, zu brav, zu diszipliniert mit
seiner Thematik umgegangen ist, indem er konventionelle Action-Szenen aneinanderreite.
Lucy mutiert gegen Ende zu einem
Wesen, das höchstpersönlich die Verbindung von Orten durch die Zeit darstellt.
Sie geht nirgendwo mehr hin – sie sitzt einfach und die Orte kommen zu ihr,
werden durch sie verknüpft. Sie ist ein lebendiges Wesen und Zeitmaschine
zugleich, ist eine Lebensform, die ihre Koordinaten in Zeit und Raum
kontrollieren kann, womit natürlich auch das jeweils zeitgebundene Bewusstsein
überwunden ist. Hat sie noch ein Bewusstsein? Der Film gibt die Antwort extrem
knapp, extrem beiläufig in ihrem ersten und letzten Kuss zu ihrem Begleiter von
der Polizei. Aus jeder Zeit bleiben ihr nur noch Erinnerungen, weil alles schon
geschehen ist, wenn sie in jeder Zeit sein kann. Die Unendlichkeit ist ein
Gefängnis für ein zeitbeherrschendes Wesen. Es steckt darin fest, weil es
überall zu allen Zeiten schon war und an dies “überall” bis in alle Ewigkeit
sich erinnert. Lucy ist ohne Übertreibung wie Prometheus am Felsen an ihr
„überall“ gefesselt. Prometheus hinterlässt der Menschheit das Feuer - Lucy
einen USB-Stick mit der Weltformel, das „absolute Wissen“ (Hegel), der totalen
Information?
Die Erinnerungen selbst sind die
Mauern dieses Gefängnisses. Ein solches Wesen entwickelt sich nicht mehr – die
100% Gehirnnutzung bedeuten in diesem Fall absolutes Ende jeglicher
Entwicklung, vollständige und vollkommene Vernetzung von Raum und Zeit. Es
existieren nur noch Erinnerungen an die Existenz, aber nicht mehr die Existenz
selbst als offener Prozess ohne bekannten Abschluss, ohne Teleologie. Gott "lebt" aus seinen Erinnerungen als universeller Archivar allen Seins, was auch immer dies "Leben" dann noch sein könnte, wenn es überhaupt noch Leben ist. In diesem Bild eines gefährlichen Endes aller Entwicklung liegt das Bild des zukünftigen Menschen noch ungeboren, embryonal verborgen:
der Mensch, der nirgendwo mehr hingeht, das Haus, den Stuhl kaum noch verlässt
und die Welt übers Internet zu sich holt, dabei jedoch immer schwächer, lebensunfähiger
wird, abhängiger von seinen Adaptern, Konnektoren, bis er zuletzt für all diese
Maschinerie entbehrlich ist und klammheimlich seine Abschaltung weniger ins
Gewicht fällt, als die Abschaltung seiner technologischen Peripherie. Hier
kündigt sich eine Machtübernahme der Maschinen an, die nicht in einem
dramatischen Akt der Machtergreifung stattfindet, sondern in einem für
Heldenrollen denkbar ungeeigneten Prozess der zunehmenden Marginalisierung
menschlicher Beteiligung an einer informationstechnologisch vernetzten Welt.
Aber die Konsequenzen sind weitaus
schlimmer: wer zeitlich ungebunden und örtlich unbegrenzt ist, der kann sich
selbst als Subjekt unmöglich definieren – er/sie ist nirgends und überall –
„überall“ ist eine Antwort, die im Film gegeben wird. Aber der Film lässt keine
Zeit zum Nachdenken und will es vielleicht auch nicht, kann es nicht –
vielleicht ist das seine Ehrlichkeit und Konsequenz. Wer überall und nirgends
ist, der macht keine Erfahrungen mehr. Nur zeitgebundene Wesen sind erkennbar –
unsere nirgends und überall-Lucy ist für lokal-Begrenzte und Sterbliche
gänzlich unsichtbar – so auch im Film. Sie löst sich auf. Hat sie jemals
existiert? War sie nur ein Technotraum von Besson oder ein modischer
Zeitmaschinentraum der Internetgeneration?
Lucy als These gesetzt, wie ein
Mensch Gott werden kann, beweist so im Prozess des Films, dass Gottwerdung eher
einer Auslöschung gleichkommt und liefert in den Stationen des Films sogar den
Beweis dafür. Wer so zeitlich unbegrenzt und ungebunden ist wie Lucy, der muss
nirgends wirklich sein und wer nirgendwo sein muss, der ist auch nicht, weil
niemand freiwillig sein kann, weil die Existenz im Sein keine Veranstaltung von
sich freiwillig Meldenden ist, weil alles, was ist, zu seinem Da-Sein gezwungen
ist. Folglich existiert Lucy, die nirgendwo sein muss, auch nicht. Sie gehört,
da offensichtlich, obwohl sie nicht existiert, doch von ihr die Rede ist, zu
jenen filigranen Wesen, um nicht von Hirngespinsten zu reden, die auch in
Serien wie „Star Trek, The Next Generation“ vorkommen, wie das ominöse Volk des
Kontinuums der Q, das über allmächtige Kräfte verfügt, durch die Zeit reisen
kann und ansonsten sich im Kontinuum so schrecklich langweilt, dass es
abwechselnd entweder sadistische Spielchen mit Sterblichen treibt, sich
sentimental in die Entwicklung der menschlichen Spezies verliebt oder den
schönen Reden eines Captain Picard lauscht. Und warum?
Weil Moral in Unendlichkeit und
Allmacht keinen Sinn ergibt, da alles ausprobiert werden kann ohne irgendwelche
Konsequenzen befürchten zu müssen. Ebenso ist auch keine Notwendigkeit
vorhanden etwas Konkretes zu einem konkreten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort
zu tun – deshalb die Langeweile.
Aus diesen beiden Voraussetzungen
gerät jegliches Handeln eines solchen Wesens zur willkürlichen, nicht
nachvollziehbaren Tat. Um nicht Zufall und Unmoral zu sagen, spricht die
Theologie an dieser Stelle von „unergründlichem Willen“. Im Ergebnis könnte es ein
tödliches Spiel eines Gottes mit den Sterblichen sein, oder ist es nicht ganz einfach
die Natur und ihre berühmten Launen?
In Lucys Gehirn löste die Droge eine
beschleunigte Evolution aus, die dazu führte, dass sie den Traum der Menschheit
alles zu erkennen zu Ende träumen durfte. Doch wie kann die Erkenntnis von
allem dazu führen, dass der Tod als Preis am Ende der Entwicklung lauert? Lucy
geht in die Ewigkeit ein, ist überall und nirgends und dies geht nur über den
Tod ihres temporal und räumlich begrenzten Körpers. Am Ende verwandelt sich das
Mädchen Lucy oder besser sie assimiliert amöbenhaft einen Serverraum, dessen
Inhalt sie, nachdem Ihre Berechnungen abgeschlossen sind, bis auf einen
USB-Stick verschwinden lässt. Der USB-Stick ist denkbar prosaisch ihr
Vermächtnis an die Menschheit, ihre zehn Tafeln. Sie ist präsent, aber physisch
nicht mehr lokalisierbar – theologisch gesprochen: omnipräsent. Man muss von
nun an schon glauben, dass es sie gibt.
Besson hat damit eine Menge auch
parodistischer Ansätze zu wahrer universeller Boshaftigkeit in mehreren Szenen
gezeigt, vielleicht auch nicht oder vielleicht hat er sie verweigert, die, und
das macht diesen Film doch in einer unerwarteten ästhetischen Wendung zum
wahren Genuss: seine Vielleicht-Ästhetik, der hypothetische Raum, den er im
Bewusstsein des irritierten Betrachters aufspannt.
Lucy erinnert und mahnt, uns nicht
mit dem Erreichten zufrieden zu geben und vor der Evolution stets auf der Hut
zu sein - sie könnte uns eines Tages, wie es dem Seiltänzer in Nietzsches „Also
sprach Zarathustra“ bereits geschehen ist, überspringen und dann hilft uns kein
Gott.
Und zuletzt – was will uns Lucy wirklich
sagen? Ihre Antworten sind auf dem USB-Stick, aber können wir sie erraten –
haben wir sie hier mit unseren Mutmaßungen und Anmaßungen vielleicht gegeben? Umreißen
wir das Problem in den Worten Nietzsches aus „Jenseits von Gut und
Böse“:
„Gesetzt wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit? Selbst
Unwissenheit? – Das Problem vom Werte der Wahrheit trat vor uns hin – oder waren
wirs, die vor das Problem hintraten? Wer von uns ist hier Ödipus? Wer Sphinx?
Es ist ein Stelldichein, wie es scheint, von Fragen und Fragezeichen.“
(Erstes Hauptstück, Von den
Vorurteilen der Philosophen, Abschnitt 1)
T.N.