Sonntag, 16. November 2014

LUCY - ein Film, der keine Zeit fand ein Meisterwerk zu werden


Lucy (Scarlett Johanson), so der Name einer relativ naiven, relativ braven, relativ netten Studentin, der es beschieden ist durch einen aufgeplatzten Drogenbeutel in ihrem Bauch im Laufe des Films sich in ein gottähnliches Wesen zu verwandeln. Zusammen mit einem Anthropologen (Morgan Freeman) beobachtet sie und damit auch das Publikum die anwachsende Leistungsfähigkeit ihres Gehirns, die in Prozent ab 10% bis zu 100%  von Kapitel zu Kapitel hochgerechnet wird und dies im Stil eines Leitmotivs, das sich durch alle Szenen zieht und so dem Ganzen trotz Rückblenden eine linear-progressive Struktur verleiht. Dabei sollten wir vereinfacht annehmen, die zunehmende Leistungsfähigkeit des Gehirns käme vom enormen Anstieg neuronaler Verschaltungen und dieser wäre ausgelöst von der Droge.

Dass solche Verschaltungen inhaltsleer bleiben müssten, wenn nicht zeitaufwendige Lernprozesse diese erst auslösten, ist eine Tatsache auf die das geneigte Publikum nicht allzu sehr beharren sollte. Nehmen wir den günstigsten Fall an, dass auch jeder Lernprozess durch die Droge fast unbegrenzt beschleunigt wird, so dass die wenigen Tage, die der Film beschreibt, tatsächlich für die Gottwerdung Lucys ausreichen.

Die Fabel von der wundersamen Zunahme der Intelligenz von Lucy lässt sich am besten als Allegorie für die Möglichkeiten menschlicher Entwicklung betrachten, die sich im Bild der Apotheose Lucys, ihrer bis zur Allmacht sich steigernder Kräfte versinnbildlicht. Man könnte fast meinen Besson sucht filmisch einen Weg säkulare Heiligenlegenden zu erschaffen, aber ist das nicht etwas, was seit geraumer Zeit nur im Film, mit dem Film und durch den Film noch möglich ist? Ich denke da an die Märtyrer-Legenden eines Rambo (Rambo), Fallon (Auf den Schwingen des Todes), Neo (Matrix) u.a.

Die Spezialeffekte und Action-Szenen fallen dadurch wohltuend auf, dass sie gut genug sind, um dem Film zu nützen, und gleichzeitig in einem Maße gewohnt, dass der Film nicht quasi auf Krücken mit ihnen zu gehen hat, sondern auch zu seiner Botschaft Zeit findet.

Im Wesentlichen haben wir es hier mit dem Versuch zu tun den Historismus des 19. Jahrhunderts in die Gegenwart zu übertragen. Die Gegenwart erzeugt historisches Bewusstsein im großen Stil, das heißt mit Massenwirkung über Dokumentationen im Fernsehen und mit Filmen zu historischen Stoffen im Kino. Wenn es sich um gutes mediales Material handelt, so enthält es zumeist eine plausible, die Bilder und Vorstellungen verbindende Erzählung. Luc Besson hat viele Dokumentationen gesehen - das wird an den viel zu langen Bildfolgen mit naturkundlichen Material deutlich. Darüber hat er leider - so scheint es - alle Lust verloren eine Geschichte zu erzählen. Aber nur durch die Geschichte, die Erzählung vermögen wir das Kontinuum - den Zeit, Raum und alle Dinge umspannenden Zusammenhang wahrzunehmen, zum Beispiel auch einen Film als Kunstwerk zu genießen. Hier wird eine gravierende Strukturschwäche des Films sowohl formal als auch thematisch sichtbar, was den Genuss leider deutlich stört.

Die Lucy von heute begegnet im Zuge der Zunahme ihrer Fähigkeiten der Lucy aus der Prähistorie der Menschheit und zitiert dabei ebenso symptomatisch wie peinlich Michelangelos Erschaffung Adams. Die Begegnungen mit allen möglichen Zitaten (und viele Szenen wirken nur wie Zitate und niemals echt!) aus der Natur- und Menschheitsgeschichte bleiben weit unter dem Niveau guter Dokumentationen. Bestenfalls sind es experimentelle Kollagen, die mehr Verlinkungen gleichen als dass sie für sich sprechen würden, aber wie könnten sie auch? Sie bekommen keine Spielzeit von Lucy, der Gottheit oder ist es doch Besson, den hier kreative Atemlosigkeit erfasst hat? Hat er den Film mit Wikipedias Hypertext und nur als Hypertext gemacht? Aber Hypertext ist kein Erzähler und keine Erzählung - es ist nur ein Rhyzom, ein Geflecht, das der Interpretation bedarf. Besson hat sich zu sehr beeilt. Sein universeller Film hätte deutlich mehr Zeit für Geschichte und Charaktere gebraucht. Hier teilt sich LUCY eine ähnliche Strukturschwäche wie der Film „Lola rennt“ von Tom Tykwer, dessen amerikanisches Original „Und ewig grüßt das Murmeltier“ zeigt, wie man es richtig macht…

Allzu häufig ersetzen Bildfolgen die Reflexion und wage Andeutungen die Narration. Symptomatisch fragt an einer fortgeschrittenen Stelle der Handlung der Polizist, der Lucy begleitet, seine Partnerin, ob er ihr überhaupt zu etwas nützlich sei. Sie daraufhin küsst ihn und sagt: "als Erinnerung". Womöglich ein Judaskuss der Fiktion über die Realität, die in diesem Film stiefmütterlich wie etwas kaum noch Existentes und eigentlich längst Vergangenes behandelt wird. Wie sollte auch ein Wesen, das sich anschickt Gott zu werden die Realität der kontextbezogenen, im Kontext gefangenen Wesen ernst nehmen können?

Doch auch diese Chance einer lachenden Gottheit hat Bessons Armut an erzählendem Geist vertan.

Der Film stellt zumindest einige richtige Fragen. Die wichtigste: was ist der entscheidende Faktor, der sowohl die biologische Evolution des Lebens als auch die physikalische Evolution des Universums grundlegend bestimmt? Antwort des Films: die Zeit.

Wer die Welt beeinflussen und wirklich gestalten will, der muss die Zeit vorwärts und rückwärts beherrschen. Wenn die Welt, die Summe aller Wechselwirkungen von Energie und Materie ist und jemand durch Kontrolle der Zeit auf alles wirken kann, dann ist dieser Jemand ein allmächtiges, allgegenwärtiges, allumfassendes Wesen - ein Gott. Strebt die Menschheit mit ihrem Potential auf diesen Zustand zu und gehört Lucy nur zur Vorhut? Sind wir Menschen nicht längst (frei nach Hegel) der Weltgeist, der sich durch die Menschheit erkennt und immer deutlicher erkennt, indem er durch uns auf alles wirkt?

Besson hat Lucy, diesen Film gemacht. Seine Grundidee ist sehr gut - die Umsetzung eher mangelhaft. Lucy ist ein Film, der keine Zeit fand ein Meisterwerk zu werden und damit vielleicht der Realität auch und gerade in seinem Scheitern oder drücken wir es ästhetischer aus in seiner “Offenheit” ähnlicher ist und näher gekommen ist, als uns lieb sein kann.

Irgendetwas scheint Besson jedoch abgelenkt zu haben oder er ist bereits zu sehr ein Speed-Junkie geworden und schon längst kein Filmemacher in Europäischer Erzähltradition mehr? Was ist aber das Zelebrieren der reinen Geschwindigkeit, der reinen Zeitbeherrschung ohne das Interesse für die einzelnen Etappen der Transformation, ohne das Interesse für die evolutionären Schritte von Materie und Leben? Das ist die reine Dummheit in der Banalität von Anfang und Ende. Bessons Fehler bei allem handwerklichem Können ist nun, dass er diesen tollen Film zu kurz gemacht hat. Auch hier gibt es ein amerikanisches Gegenbeispiel, wie man es besser macht: „Interstellar“.

LUCY jedoch ist auch als misslungenes Meisterwerk sehr interessant und daher äußerst lehrreich und sehenswert! Möglicherweise ist dieser Film auch eine unfreiwillige, also indirekte Warnung an all jene, die das Heil im Rausch des absoluten Kicks suchen. Dort, im Topos des Kicks, der Kulmination ekstatischen Genusses an der Schwelle der Überreizung und höchsten Lebensgefahr wartet immer die Aufhebung aller Bezüge von Zeit und Raum - das Nichts.

Dieses Nichts ließe sich am besten als Nihilismus beschreiben von Menschen, die mit ihrem Leben nichts anzufangen wissen und in der emotionalen Verkleidung der Langeweile, sich in lebensmüden Aktionen mit Hilfe von Drogen oder Extremsportarten erschöpfen.

Den Vorwurf muss man ihm letztlich doch machen, dass Besson sich dessen schuldig gemacht hat, die Komödie menschlicher Dummheit oder die Dummheit alles Lebendigen sogar nicht deutlich genug dargestellt zu haben und insgesamt zu nett, zu brav, zu diszipliniert mit seiner Thematik umgegangen ist, indem er konventionelle Action-Szenen aneinanderreite.

Lucy mutiert gegen Ende zu einem Wesen, das höchstpersönlich die Verbindung von Orten durch die Zeit darstellt. Sie geht nirgendwo mehr hin – sie sitzt einfach und die Orte kommen zu ihr, werden durch sie verknüpft. Sie ist ein lebendiges Wesen und Zeitmaschine zugleich, ist eine Lebensform, die ihre Koordinaten in Zeit und Raum kontrollieren kann, womit natürlich auch das jeweils zeitgebundene Bewusstsein überwunden ist. Hat sie noch ein Bewusstsein? Der Film gibt die Antwort extrem knapp, extrem beiläufig in ihrem ersten und letzten Kuss zu ihrem Begleiter von der Polizei. Aus jeder Zeit bleiben ihr nur noch Erinnerungen, weil alles schon geschehen ist, wenn sie in jeder Zeit sein kann. Die Unendlichkeit ist ein Gefängnis für ein zeitbeherrschendes Wesen. Es steckt darin fest, weil es überall zu allen Zeiten schon war und an dies “überall” bis in alle Ewigkeit sich erinnert. Lucy ist ohne Übertreibung wie Prometheus am Felsen an ihr „überall“ gefesselt. Prometheus hinterlässt der Menschheit das Feuer - Lucy einen USB-Stick mit der Weltformel, das „absolute Wissen“ (Hegel), der totalen Information?

Die Erinnerungen selbst sind die Mauern dieses Gefängnisses. Ein solches Wesen entwickelt sich nicht mehr – die 100% Gehirnnutzung bedeuten in diesem Fall absolutes Ende jeglicher Entwicklung, vollständige und vollkommene Vernetzung von Raum und Zeit. Es existieren nur noch Erinnerungen an die Existenz, aber nicht mehr die Existenz selbst als offener Prozess ohne bekannten Abschluss, ohne Teleologie. Gott "lebt" aus seinen Erinnerungen als universeller Archivar allen Seins, was auch immer dies "Leben" dann noch sein könnte, wenn es überhaupt noch Leben ist. In diesem Bild eines gefährlichen Endes aller Entwicklung liegt das Bild des zukünftigen Menschen noch ungeboren, embryonal verborgen: der Mensch, der nirgendwo mehr hingeht, das Haus, den Stuhl kaum noch verlässt und die Welt übers Internet zu sich holt, dabei jedoch immer schwächer, lebensunfähiger wird, abhängiger von seinen Adaptern, Konnektoren, bis er zuletzt für all diese Maschinerie entbehrlich ist und klammheimlich seine Abschaltung weniger ins Gewicht fällt, als die Abschaltung seiner technologischen Peripherie. Hier kündigt sich eine Machtübernahme der Maschinen an, die nicht in einem dramatischen Akt der Machtergreifung stattfindet, sondern in einem für Heldenrollen denkbar ungeeigneten Prozess der zunehmenden Marginalisierung menschlicher Beteiligung an einer informationstechnologisch vernetzten Welt.

Aber die Konsequenzen sind weitaus schlimmer: wer zeitlich ungebunden und örtlich unbegrenzt ist, der kann sich selbst als Subjekt unmöglich definieren – er/sie ist nirgends und überall – „überall“ ist eine Antwort, die im Film gegeben wird. Aber der Film lässt keine Zeit zum Nachdenken und will es vielleicht auch nicht, kann es nicht – vielleicht ist das seine Ehrlichkeit und Konsequenz. Wer überall und nirgends ist, der macht keine Erfahrungen mehr. Nur zeitgebundene Wesen sind erkennbar – unsere nirgends und überall-Lucy ist für lokal-Begrenzte und Sterbliche gänzlich unsichtbar – so auch im Film. Sie löst sich auf. Hat sie jemals existiert? War sie nur ein Technotraum von Besson oder ein modischer Zeitmaschinentraum der Internetgeneration?

Lucy als These gesetzt, wie ein Mensch Gott werden kann, beweist so im Prozess des Films, dass Gottwerdung eher einer Auslöschung gleichkommt und liefert in den Stationen des Films sogar den Beweis dafür. Wer so zeitlich unbegrenzt und ungebunden ist wie Lucy, der muss nirgends wirklich sein und wer nirgendwo sein muss, der ist auch nicht, weil niemand freiwillig sein kann, weil die Existenz im Sein keine Veranstaltung von sich freiwillig Meldenden ist, weil alles, was ist, zu seinem Da-Sein gezwungen ist. Folglich existiert Lucy, die nirgendwo sein muss, auch nicht. Sie gehört, da offensichtlich, obwohl sie nicht existiert, doch von ihr die Rede ist, zu jenen filigranen Wesen, um nicht von Hirngespinsten zu reden, die auch in Serien wie „Star Trek, The Next Generation“ vorkommen, wie das ominöse Volk des Kontinuums der Q, das über allmächtige Kräfte verfügt, durch die Zeit reisen kann und ansonsten sich im Kontinuum so schrecklich langweilt, dass es abwechselnd entweder sadistische Spielchen mit Sterblichen treibt, sich sentimental in die Entwicklung der menschlichen Spezies verliebt oder den schönen Reden eines Captain Picard lauscht. Und warum?

Weil Moral in Unendlichkeit und Allmacht keinen Sinn ergibt, da alles ausprobiert werden kann ohne irgendwelche Konsequenzen befürchten zu müssen. Ebenso ist auch keine Notwendigkeit vorhanden etwas Konkretes zu einem konkreten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort zu tun – deshalb die Langeweile.
Aus diesen beiden Voraussetzungen gerät jegliches Handeln eines solchen Wesens zur willkürlichen, nicht nachvollziehbaren Tat. Um nicht Zufall und Unmoral zu sagen, spricht die Theologie an dieser Stelle von „unergründlichem Willen“. Im Ergebnis könnte es ein tödliches Spiel eines Gottes mit den Sterblichen sein, oder ist es nicht ganz einfach die Natur und ihre berühmten Launen?

In Lucys Gehirn löste die Droge eine beschleunigte Evolution aus, die dazu führte, dass sie den Traum der Menschheit alles zu erkennen zu Ende träumen durfte. Doch wie kann die Erkenntnis von allem dazu führen, dass der Tod als Preis am Ende der Entwicklung lauert? Lucy geht in die Ewigkeit ein, ist überall und nirgends und dies geht nur über den Tod ihres temporal und räumlich begrenzten Körpers. Am Ende verwandelt sich das Mädchen Lucy oder besser sie assimiliert amöbenhaft einen Serverraum, dessen Inhalt sie, nachdem Ihre Berechnungen abgeschlossen sind, bis auf einen USB-Stick verschwinden lässt. Der USB-Stick ist denkbar prosaisch ihr Vermächtnis an die Menschheit, ihre zehn Tafeln. Sie ist präsent, aber physisch nicht mehr lokalisierbar – theologisch gesprochen: omnipräsent. Man muss von nun an schon glauben, dass es sie gibt.

Besson hat damit eine Menge auch parodistischer Ansätze zu wahrer universeller Boshaftigkeit in mehreren Szenen gezeigt, vielleicht auch nicht oder vielleicht hat er sie verweigert, die, und das macht diesen Film doch in einer unerwarteten ästhetischen Wendung zum wahren Genuss: seine Vielleicht-Ästhetik, der hypothetische Raum, den er im Bewusstsein des irritierten Betrachters aufspannt.

Lucy erinnert und mahnt, uns nicht mit dem Erreichten zufrieden zu geben und vor der Evolution stets auf der Hut zu sein - sie könnte uns eines Tages, wie es dem Seiltänzer in Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ bereits geschehen ist, überspringen und dann hilft uns kein Gott.

Und zuletzt – was will uns Lucy wirklich sagen? Ihre Antworten sind auf dem USB-Stick, aber können wir sie erraten – haben wir sie hier mit unseren Mutmaßungen und Anmaßungen vielleicht gegeben? Umreißen wir das Problem in den Worten Nietzsches aus „Jenseits von Gut und Böse“:

„Gesetzt wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit? Selbst Unwissenheit? – Das Problem vom Werte der Wahrheit trat vor uns hin – oder waren wirs, die vor das Problem hintraten? Wer von uns ist hier Ödipus? Wer Sphinx? Es ist ein Stelldichein, wie es scheint, von Fragen und Fragezeichen.“
(Erstes Hauptstück, Von den Vorurteilen der Philosophen, Abschnitt 1)

T.N.