Mittwoch, 25. September 2013

Im Rausch der Verwandlung III

Nach dem Attentat des Schicksals auf unseren Bus und einem lehrreichen Zwischenstopp bei meinem Buchhändler kam es zur Begegnung eines Auslandsgriechen mit einem Inlandsgriechen. Wer ist wer - who is who? Kann man das an den Gesichtern erkennen? Ein spontanes kleines Gipfeltreffen unter Vettern. Dies erwähne ich hier nicht ohne Bauchweh, denn Griechenland täte weniger familiäre Wärme und mehr kalte, rationale Berechnung gut - nach den Missbräuchen der letzten Jahrzehnte.


Die Vetternwirtschaft, so eins unserer Zwischenergebnisse, wird nicht durch emotionale Kälte abgelöst, sondern durch die Wärme einer kollektiven Vision gemeinsamer Zukunft, in der Praxis durch einen Rausch vieler einzelner Taten und Taten Einzelner. Das Machbare muss wieder erstrebenswert sein, die Notwendigkeit erfüllend, das Schwierige eine Herausforderung und Verlockung bedeuten.
Die Unternehmen und Unternehmer orientieren sich zunehmend von einer allzu starren internationalen Ausrichtung, bei der sie zum großen Teil ihre Möglichkeiten überschätzt und ihre Kräfte strapaziert hatten, wieder auf den griechischen Binnenmarkt um, in dem sie wieder sich und ihr Land auf eine solide Basis zu stellen haben.



Der Ausblick von unserem "Petersberg" erstreckt sich nicht über den Rhein, sondern über die nördliche Ägäis und wird links eingefangen von einem Kirchlein hoch oben auf dem Felsen samt Zypressen, die wie Flammen in den sommerlichen Himmel lodern. Der Meereshorizont spannt sich sanft bis zum anderen bebauten Bergrücken nach rechts, wobei beide Teile steil in Richtung Hafen abfallen und wir mitten drin, im Sog von Natur und historischem Ereignis! Die Themen waren ernst, doch das Schwerste soll man mit der größten Leichtigkeit behandeln...



Das alte Rathaus der Stadt mit kleinerem Nachbargebäude, der Bibliothek, deren einziger Besucher ich vor Jahren war. Immerhin wird sie zurzeit restauriert.


(to be continued...)

Samstag, 21. September 2013

Musikalisches Intermezzo - Lana Del Rey - Summertime Sadness



Nicht nur Otto, nicht nur Marcel - auch der Sommer ist tot. Und diesen Sommer habe ich, nachdem ich die heißen Monate des Jahres viele Jahre hindurch möglichst ignorierte, wieder sehr gemocht. Und fast wären mir die Flügel weggeschmolzen, doch im letzten Augenblick landete ich sicher. Ein Engel, Lana singt dazu passend "Summertime Sadness", für alle, die diesen Sommer überlebt haben... ;-)

Mittwoch, 18. September 2013

Im Rausch der Verwandlung II

Wo bin ich? Was sehe ich?


Wie Ihr seht - die Taue sind abgeschackt, der Anker gelichtet, das Boot fehlt - "Nous sommes embarquées" (Der Himmel über Berlin) - wir sind eingeschifft und auf hoher See. Wehe denen, die zurückblieben. Es gibt auch in Griechenland Verzweifelte und Menschen, die von der "Morgenröte" geblendet werden - die anderen verändern sich, verwandeln sich...

Die Urlaubsgriechen, wie ihr sie kennt, die Animationsgriechen eurer heißen Tage, die Unterhalter für ein paar Tage und Wochen werden bald andere sein. Der Stuhl ist verlassen. Der Himmel selbst verlangt eine Neu-Besetzung und der griechische Himmel kann sehr überzeugend sein...



Was tun diese Verwandlungskünstler? - Sie lesen - zum Beispiel Buecher aus einem ausgezeichneten Buchladen namens "Eklogi" (Wahl, Auswahl). Wieder ging ich zufällig vorbei, wie jedesmal, wenn ich in Kavala bin, ich immer zufällig vorbei gehe und zufällig finde ich wichtige Bücher im Schaufenster oder bekomme sie von meinem Lieblingsbuchhändler Alexis in die Hand gedrückt mit einem denkbar knappen, doch stets korrekten Kommentar.

Im Schaufenster diesmal: Stefan Zweig - Im Rausch der Verwandlung. Aus dem Nachlass erschienen auf Griechisch übersetzt. Gibt es einen treffenderen Titel für die Geschehnisse in Griechenland und in Europa? Wie könnte ich Alexis nicht unendlich dankbar sein?
Und noch fiel kein Wort zwischen uns...


(to be continued...)

Montag, 2. September 2013

Im Rausch der Verwandlung I

Griechenland u.a. Gegenwartskatastrophen im "Rausch der Verwandlung"– frei nach Stefan Zweigs gleichnamigem Roman.

Sommer 2013, Griechenland. Mein erster Sommer in Griechenland seit 13 Jahren. Berlin - Thessaloniki, blauer Himmel, ein heißer Sommertag, ein schöner F l u g. Im Bus nach Kavala, meiner Heimatstadt, ertönen Alarmsignale... Der Fahrer muss auf der Autobahn anhalten und uns rauslassen. Es qualmt hinten heftig aus dem Blech.

Erst will der Fahrer unter Schock stehend nur mit seiner Zentrale telefonieren - dann überzeugen ihn ein paar andere und ich doch unser Gepäck zu retten. Kaum haben wir die Koffer aus dem Laderaum, da schiessen auch schon die Flammen aus dem Motorblock. Niemand kommt zu Schaden. Es ist ein Riesen-Spaß. Das Ganze gibt mir natürlich zu denken. In den "Zufällen", die uns begegnen, steckt mehr "System" als wir ahnen. Es muss nicht immer der "brennende Dornbusch" sein - manchmal kann es auch ein Bus sein. Auf jeden Fall muss man Zeichen zu deuten wissen. (to be continued...)

  

 














Samstag, 31. August 2013

Die Wiederentdeckung Griechenlands


Auf der Flucht vor der eigenen Dummheit reiste ich für eine Woche nach Griechenland. Ist man auf
R e i s e n nicht immer auf der Flucht vor der eigenen Dummheit?
Freundlich formuliert: R e i s e n bildet.

Und Griechenland empfing mich, "bildete" mich auf bizarre A r t und Weise: mit einem strahlend blauen Himmel und einem brennenden Bus, unseren Bus von Thessaloniki nach Kavala.


Nachtrag: ich schrieb "R e i s e n" merkwürdig auseinander, dies Wort in diesem Zusammenhang übertrieben hervorhebend - das liegt daran, dass Blogger mir das Wort immer automatisch mit Werbung verlinkt. Auf diese Weise überliste ich die Automatik und opfere ein wenig meine Syntax dafür. Aber Werbung zu verlinken ohne mich zu fragen - das geht nicht...

Mittwoch, 28. August 2013

Restart - habe ich wirklich alles falsch gemacht? Ja natürlich. Also: Restart!


Ουρανέ γαλαζοπρόσωπε τα σύννεφα έχεις φρύδια
Με τα πλατιά ρουθούνια σου της γής το χαροκόπι ψάχνεις
Πετάς σαν γλάρος του γυαλού, δελφίνη των κυμάτων
Αφρίζεις σε φωλιές βραχών, μουγκρίζεις διψαζμένος
Κι απάνο στον ορίζοντα ανοίγεις στεριές σαγώνια
Είναι τα δόντια σου νησιά απλωτά η ξέρες θανατιφόρες;
Έχεις στο σβέρκο σου λαμπρό τον ήλιο μεθυζμένο
Να βάφει κάθε πρωϊ κάθε βραδιά τη μέση σου με αίμα


(Schnell-Übersetzung)

O Himmel – Du blaugesichtiger, mit Wolken Augenbrauen
Mit deinen breiten Nüstern suchst Du der Erde Freuden
Du fliegst als Möwe über die See, kreuzt als Delfin die Wellen
In den Spalten der Klippen schäumst Du, brüllst voller Durst
Und über dem Horizont öffnest Du deiner Kiefer Feste
Sind Deine Zähne Inseln oder todbringende Untiefen?
An deinem Nacken leuchtet Dir die Sonne trunken und färbt
Jeden Morgen und jeden Abend dein Kreuz mit Blut.


Τιφλός ο γαλαξίας κυβερνά με μάζες σκορπιζμένες
Ένα μάτι να κοιτά αντίστροφα στον χρόνο
Ειν η καρδιά του σκελετού που τρέφεται απο ήλιους
Δοξάζοντας κάθε στιγμή μαζή άρχή και τέλος
Πείνει η πηγή το φώς, τον κόσμο επιστρέφει
Ξεσκίζοντας την ιστορία μ' αόρατα ψαλίδια

(Schnell-Übersetzung)

Blind regiert die Galaxie alle zerstreuten Massen
Ein Auge, das rückwärts in die Zeit schaut
Ist das Auge des Skeletts, das sich aus Sonnen nährt
Feiert es jeden Augenblick zugleich Anfang und Ende
Die Quelle trinkt das Licht, kehrt um die Welt
Zerschneidet die Geschichte mit unsichtbaren Scheren

Sonntag, 18. August 2013

Kino - Der Film "Elysium"



Der Film ist wohl vom Skript aus gesehen im Entwurfsstadium stecken geblieben und wurde dann aber gedreht, so dass man ihn sieht und sich an vielen Stellen "mehr" wünscht. Der Film ist aber sehr gut als Warnung, als böses Omen einer auf uns zurollenden möglichen Zukunft. Die Hauptgegner kämpfen beide mit Exoskeletten wie sie die US-Army entwickelt. Die Sphäre der Elite-Menschen und Bösewichter wird schon wieder mit Musik von Johann Sebastian Bach untermalt: es sind diesmal die Cello-Suiten, die dran glauben müssen als Chiffre der Trennung zwischen den prolligen Guten und den elitären, skrupellosen Elysium-Bewohnern. Bei Hannibal Lector im Film "Schweigen der Lämmer" wurden die Goldbergvariationen aus ebendemselben Grund verwurstet. So schürt man eher das Misstrauen und die Vorurteile der Menschen gegen die große Kunst und erzeugt genau die Kluft, die man eigentlich durch die Story überwinden möchte, aber möchte man das wirklich? Die Story will die Menschheit am Ende versöhnt und geeint sehen, aber ihre stilistischen Methoden der Darstellung der Unterschiede verrät die eigentlichen Intentionen, die eigentliche Sicht der Dinge in solchen Filmen: die Gewalt, die harte Realität der getrennten Sphären herrscht und sie bestimmt die Komposition des Films - die versöhnende Utopie zum Schluss ist nur der Zuckerguss, der draufgetan wird, damit der Film sich verkauft, das heisst nicht böse verunsichert. Wollen wir also am Ende eingelullt werden, was vorgemacht bekommen, im Kino unsere wahren Motivationen vor uns selbst versteckt sehen, mit standardisierten Happy-Ends uns selbst einen Propfen ins schäumende Gehirn aufstecken lassen?

Erschreckend ist vor allem das selbstverständlich anmutende Spiel mit dem Gedanken des Putsches innerhalb einer fortschrittlichen Gesellschaft als legitimes Mittel ihrer Reform - dies ist ein Tabu in demokratischen Gesellschaften, das kein Tabu mehr zu sein scheint und vielleicht ist es das nicht mehr seit dem 11. September und allem, was danach folgt. Der Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln wird immer hoffähiger. Wir sollten alle genau aufpassen, was angeblich Verantwortliche in unserem Namen mit dieser Republik und letztlich uns anstellen.


Lesung in Treptow

Am Abend vor dem Abflug kam es noch zu einer spontanen Majakowski-Lesung am Hafen des Treptower Parks. Mein Publikum war begeistert und klatschte mit beiden Händen...;-)
Ich fühlte mich, als hätte ich in 20 Minuten ein ganzes Leben durchlebt und vielleicht nicht nur meines, sondern das vieler Menschen, einer ganzen Epoche. Dementsprechend fiel mein Blick danach hinaus aufs Wasser gefasst und streng aus. Es war viel Selbstbeherrschung nötig, um die Contenance zu wahren. Das kleine Drama, das ich las, titelte wie der Autor selbst: Wladimir Majakowski - geschrieben 1913.

Freitag, 16. August 2013

Ich höre wie die Wellen und die Möwen mich rufen...



Der Sommer ist noch nicht zu Ende. Es warten nächste Woche die kilometerlangen Strände Nordgriechenlands, die Klippen und Buchten von Kavala und Halkidiki, die Strandbars, Möwen und Pina Coladas - was mich nicht daran hindern wird auch zwei, drei Bände von Majakowskij mitzunehmen. Der Dichter der Revolution, der die Maschinen, die Natur und die Menschen in einer unglaublichen Synthese poetisiert hat. Die Bolschewiken, Lenin, die ganzen Parteibonzen - keiner konnte ihm das Wasser reichen. Er hatte Visionen, die weit über seine Zeit für die Ewigkeit gültig sind und aktuell bleiben. Majakowski bringt Pflastersteine, Kurbelwellen, Sonneneruptionen, Sternenfetzen zum Singen. Übringes - ach das ist so ein schönes Liedchen...

Donnerstag, 15. August 2013

Im Außenbereich der Piano Bar Van Gogh - Am Schiffbauerdamm 6-7, einen Steinwurf vom S-Bahnhof Friedrichstraße entfernt. Ein Cafe folgt dem anderen, jedes mit seinen eigenen Spezialitäten und eigenem Charakter. Hier bin ich oft nach der Arbeit, weil es nichts besseres gibt als sofort nach der Arbeit bei einem leckeren Cafe oder Wein ein neues Kapitel eines neuen Tages aufzuschlagen, am besten in der Nähe des Wassers, in der Nähe der Kultur, in der Nähe der Menschen - so lässt sich das Leben geniessen und entwickeln... ein Ort mit Flair, man kann bis zum Hackeschen Markt die Spree entlang spazieren und begegnet Berlinern und Weltbewohnern. Das alltäglichste Leben wird beim Gehen in Kunst transformiert. ;-)

Samstag, 13. Juli 2013

Scarlatti-Fandango en modo dorico K.posth



Dieses Video über einen in den letzten Jahren wiederentdeckten Fandango von Scarlatti gespielt von der Japanerin Mayako Sone ist euphorisierend von der ersten bis zur letzten Note. Ich konnte es auf facebook nicht posten, also stelle ich es hier rein. Viel Vergnügen!

Montag, 8. Juli 2013

SCEYELINES – ein philosophischer Essay. Eindrücke zur Ästhetik der Gegenwart




Vorbemerkung: Das ist einer meiner vielleicht radikalsten Texte, geschrieben irgendwann im Jahr 2003, anlässlich der Einführung des Online-Magazins "sceyelines" meines Freundes Dirk Behlau. Dem Magazin war leider nach der 3en Ausgabe keine weitere beschieden - vielleicht weil es zu perfekt war? Ich hoffe, dass der etwas schräge Humor von damals heute noch nachhalt...

Intro

 

Es geht um Künstler, Menschen, oder Noch-Menschen, die ihren Weg suchen und fortschreiten innerhalb des Projekts unserer Gegenwart, das nach wie vor eine unbekannte Kraft schreibt, ein Netzwerkadministrator der höheren Art steuert...

Es ist eine bunte und laute Welt. Akronyme oszillieren zwischen Wort und Bild. Die Wirklichkeit verblasst vor dieser Welt der Retro-Looks, Retro-Furnitures und Retro-Comics. Alles ist von allem inspiriert – es herrscht die Kunst der Überblendung in der Utopie der Verwirklichung.

Eins wird deutlich: wenn blaue Katzen sprachlos, lautlos über den Bildschirm schleichen, die Deckenlampe in einem Hong Konger Appartement ihren Auftritt hat: roter pelziger Stempel von einem Kreis aus Licht umflossen. Der Mensch hatte die Wahl und wählte die vollkommene ästhetische Utopie.

Doch worum geht es in diesen Interviews und ästhetischen Präsentationen? Es geht um eine Vision, die die weiteste Vergangenheit, den Mythos mit sich nimmt in eine Zukunft, die eine vollkommene Synthese aus Ästhetik und Funktionalität eingeht. Dabei wird das Rationale zum Relikt, wie eine Haut, die der Mensch nach seiner Verwandlung abgelegt hat.

Dirk Behlau befragt zum Beispiel Demian 5 ebenso wichtig wie unbeantwortbar nach dem Auslöser seiner Comic-Schöpfung „When I am King“. Dieser erwidert, er mixe unbewusst „irgendwelches visuelles Zeug, Filme, Comics, Animes, Videogames... – vielleicht noch ein paar obskure Weisheiten... aus dem eigenen Fundus und dann wird alles ausgekotzt und digitalisiert. So geht das.“
Wahrlich, wahrlich hier spricht jemand wahrhaftig und das ist nicht zuletzt den Machern dieses Online Magazins zu verdanken. Wer weiß – vielleicht gelingt ihnen das, was heute so wichtig ist: die lähmende saisonale Reflexion unseres ritualisierten Alltags zugunsten einer permanenten und dynamisierten ästhetischen Diskussion zu überwinden. Dieser kleine philosophische Essay will dazu seinen Beitrag leisten.

Der Retro-Mensch im Eierstuhl


Herausragendstes Beispiel einer archaisch-futuristischen Lebensweise ist der berühmt berüchtigte Eierstuhl. Wer sitzt in diesem Stuhl, ein Mensch oder ein Huhn? – Nun ist der Mensch kein Huhn und das Huhn würde niemals in seinem gelegten Ei sitzen – außer dem Küken selbst, das wiederum nicht sitzt, sondern eingeschlossen liegt. Und sofort springt eine Frage ins Bewusstsein: ist der ästhetische Mensch ein eingeschlossenes Küken, das davon träumt die Schale zu durchstoßen, um in die Welt mit zartestem Flaum auf dem Körper seine kleinen zierlichen Trippel-Schrittchen zu tun?

Die Beschaffenheiten von vielen synthetischen Pelzoberflächen, großen homogenen Farbflächen, die den eingeschränkten Sehfähigkeiten von Küken und anderen Neugeborenen entgegenkommen, geben eine speziesübergreifende Tendenz an, einen Wegweiser in die Zukunft des Transhumanen... Das Küken, der Brütende ist ein Küken, das sich selbst ausbrütet. Wer sind also die Retro-Menschen? Es sind diejenigen, die sich selbst ausbrüten in ihre Zukunft hinein, die sie als Gegenwart erfahren.

Wer die Vergangenheit in die Gegenwart zerrt, der errichtet einen so starken Gravitationspunkt, dass auch der Ereignishorizont zwischen dem, was war, dem, was ist und dem, was sein wird, sich überlappt: die Synchronizität und Totalität der Gegenwart, der gelebte Futurismus und der nostalgische Revanchismus – sie bevölkern dieselbe Gegenwart – in einer Singularität der Existenz....
Auch wenn die Zukunft gegenwärtig ist, so muss sie dennoch geboren werden. Die Spuren einer modernen Eva finden sich überall auf dem Planeten. Zum Beispiel in Hong Kong. Wer ist bloß diese geheimnisvolle Eva aus Hong Kong? Ihre Möbel zeigen sie uns vielleicht aus der Perspektive aus der sie am liebsten betrachtet werden möchte: der niedlichen Welt aus Tropfen, Bällen, Röhren, Zapfen und Zäpfchen. Es ist die weibliche Welt, bestehend aus Blasen und Globen, gekrümmten Oberflächen einer molekularen Ästhetik, die den Betrachter in den Mikrokosmos aufsaugt als wäre die Welt eine in alle Richtungen geöffnete Vulva. Wir dringen permanent ein durch diese Optik der Scheidewände, tasten uns vor wie die Männer eines Konquistadoren-Trupps und ahnen nur vielleicht, dass es keinen Weg hinaus mehr gibt, keine Alte Welt nachdem die Neue uns in ihren labyrinthischen Gängen mit ihren Reizen fesselt. Die Menschheit ist wie eine Tröpfcheninfusion an der Vene des Patienten Zukunft und die Intensivstation ihre Spielwiese. Sie kämpft ums Überleben und ihre Rezeptur besteht aus Medikationen intensiver Farben, intensiver Formen, intensiver Töne.

Sitzend in unseren Eierstühlen, Ballchairs und Chilloutliegen hören wir die digitalen Impressionen einer aufkommenden Zukunft. Polyrhythmisch verwandeln uns die Klänge und Beats zu bebenden Organismen, die sich in Position vibrieren lassen. Hier ist kaum noch etwas sichtbar, bei aller Buntheit, sondern alles in Bewegung - auch die Relikte unseres seelischen Gepäcks. Mit Aural Float, The Future Sound of London, The Sushi Club, Nightmares on Wax, Orbital, Groove Armada oder Paris Lounge planieren wir den tristen Warteraum Gegenwart um zu einem Chillout-Weltenraum. Dabei tönt die Musik – falls es Musik ist und nicht programmierte Nahrung – aus kugelrunden Ensembles von Minipods, die wie Besucher aus dem Weltraum in Raumkapseln auf dünnen Landegestellen vor uns stehen. Nicht nur der Klang ist schwerelos, sondern auch die Klangkörper. Und insofern wir noch Körper haben, ohne freilich Körper sein zu wollen, genießen wir den Vorgang, der uns chillig zur körperfernen Mühelosigkeit umprogrammiert.

Der Eros Stuhl von Philippe Starck und die Zukunft des Weiblichen

 

Vier Mal ein nacktes Appetithäppchen, eine nackte Frau, zusammengekauert in einer transparenten Schale, die auf Metallstelzen ruht wie die Stuhlfantasie eines Ornithologen... Dieselbe Frau sitzt oder eigentlich kauert sie auf vier farblich unterschiedlichen Stühlen in vier leicht unterschiedlichen Körperstellungen vierfach präsent im selben Raum, der keine Wände hat, keine Grenzen kennt, vielleicht keine Grenzen braucht. Sie ist zu schnell für uns. Sie hat schon überall Platz genommen. Sie ist schon da gewesen, wo wir vielleicht nie hinkommen oder nie ankommen werden. Sie ist die Ankunft selbst. Diese Frau in ihren schlichten Posen eines auf sich konzentrierten Körpers ist eine Allegorie der Uneinholbarkeit des Weiblichen.

Das Erschreckende ist dabei: sie zeigt keinerlei Anzeichen der Anstrengung. Sie überwindet die Gesetze der Physik – sie ist überall, sitzt überall, gleichzeitig in der Pose, die ihr jeweils behagt – ohne Hektik: die hydraulisch-motorische Agonie der Glieder und ihrer Bewegung sind ihr unbekannt. Wann hat sie sich bewegt? Wie ist sie dahingekommen? War es anstrengend? Alles sinnlose Fragen, sinnlose Perspektiven auf ein abgeschlossenes Phänomen, das den Betrachter draußen lässt. Das Licht und sein Bild auf unserer Netzhaut schenken uns eine Faszination zusammen mit einer quälenden Ohnmacht des Unerreichbaren und deshalb ahnen wir, womit wir es hier zu tun haben. Es ist die Vollkommenheit, der man nichts hinzuzugeben vermag und von der man nichts abziehen kann, die keinerlei Manipulation zulässt.

Doch aufgepasst, nach einer heftigen Überblendung unserer Sinne, kühlen wir uns ab und sehen diese Frau mit so fundamentalem Objektbezug als eine ästhetische Illusion des Vollkommenen und damit erreichen wir den tragischen Moment der Moderne. Diese Frau sitzt sich selbst gegenüber, ohne sich im Geringsten darüber klar zu sein, dass sie das tut. Sie sieht sich nicht, ahnt sich nicht – ihr fehlt das Bewusstsein. Die digitale Foto-Kollage in der sie gefangen sitzt ist nicht nur eine Technik, sondern auch ein Abbild eines fundamentalen Mangels an dem, was wir früher das Selbst nannten. Jedes Bild von uns negiert unser Bewusstsein. Primitive Völker, die an die Gefangennahme des Menschen vom Bild glaubten, hatten Recht. Die Kollage und jede andere Manipulation von Bildern beweist das Fehlen von Bewusstsein. Am Ende könnte sogar die Erkenntnis stehen, dass innerhalb der menschlichen Kulturgeschichte das Bewusstsein selbst eine ästhetische Illusion gewesen ist. Wie könnte uns sonst ein Bild gefangen nehmen, fesseln? Bedenkt man gar die Metaphorik und Bildhaftigkeit unserer Sprache gibt es keinen Zweifel mehr: unser Selbst ist eine Frage des Geschmacks.

Sehen wir diese Frau unter diesen neuen Prämissen genauer an. Ist sie, wie anfangs behauptet wirklich ein Appetithäppchen? Könnte ein Mann zu ihr kommen? Nichts abwegiger als das. Sehen wir sie noch genauer an. Ist sie überhaupt eine Frau? Ihre Genitalöffnungen sind mit überkreuzten Fesseln und Händen vierfach verschlossen und mit der Wucht ihrer eingeknickten Knie hält sie ihre Brüste verborgen. Den Rest besorgen die Stühle. Diese Frau möchte nicht mit anderen Frauen verglichen werden, nicht von Männeraugen bewundert werden. Sie ist sich selbst genug, ohne sich selbst zu kennen. Sie will nicht den Gedanken, der Subjekt und Objekt vereint – sie will überhaupt nichts. Sie ist Ausdruck von Form und Substanz, ist schlicht lebendes isoliertes Objekt. Ihre existentielle Konzentration wird nur noch überboten durch die Existenz der Stühle. Ihre Rest-Weiblichkeit, die Essenz ihrer Weiblichkeit möchte nicht den Menschen vermehren. Sie träumt von einer Existenz als digital Beauty, währen draußen der Kampf um die Vermehrung der Stühle tobt. Dieses Bild birgt also eine weitere, größere Allegorie zwischen seinen humanoiden Pixeln: die der Annäherung zwischen lebendiger und toter Materie, eine Allegorie der Transzendenz zwischen dem letzten Aufgebot bis zur schlussendlichen Aufgabe des lebendigen Körpers und seiner endgültigen Transformation ins Anorganische. Am Ende bleibt uns nur folgende Erkenntnis und Frage... Unser neues „zurück zur Natur“ führt weg vom Lebendigen und dringt weit hinein in das Totenreich des Anorganischen. Was werden wir sein, wenn wir nicht mehr das sind, was wir waren?

Freitag, 5. Juli 2013

Bemerkungen zur Musik Gustav Mahlers

SAN 2008
Es ist ein Durst in unseren Worten, der nur durch Worte gestillt werden kann, ein Durst in unseren Gedanken, der dem Flügelschlag eines Genius oder Engels gleicht - unendlich sanft in seiner Zartheit, unausweichlich in seiner Klarheit.

Wir brauchen das hörbare Wort, das uns erklärt, verkündet, das Wort, das unser Erleben deutet und damit werden wir, mit dem Wort-Laut im Ohr in das "Gefüge" einer Welt gestellt, das nicht starr und schwer ist, sondern leicht wie ein Windhauch.

Durch Mahlers Musik erfahren wir unmittelbar, erleben am ganzen Körper, dass wir mehr Schwingung, Klang und Laut als schwere Materie sind. Menschen sind Klangbilder, klangmelodisch und onomatopoetisch Durchdrungene, wenn sie sich wahrhaftig zu empfinden lernen. Die Selbstentdeckung, zuweilen Selbsterfindung findet immer in einer Art "Konzertsaal" statt. Viele Hörer der Musik Mahlers berichten, dass seine Musik nicht nur schön, dramatisch und anregend war, sondern sie in ihrem innersten Kern verändert, aus ihnen neue Menschen gemacht habe.

Der "Konzertsaal" ist die tönende Weltkuppel unter der wir die Vision des eigenen Lebens in Tönen empfangen. Diese so reale Magie musikalischer Empfindung verwandelt nicht nur auch die eigenen vier Wände in einen allumfassenden Kosmos, sondern setzt das Subjekt wirklich frei. Das Sich-Einfügen und Sich-Einrichten irgendwo auf dem Planeten ist die gewöhnlichste Ambition eines jeden Lebewesens - diese Musik steigert hingegen unser Wollen, steigert alle Sehnsüchte ins Unermessliche - there is no last frontier anymore - space is, has been our only nursery. Befreit von jedem einschränkenden Kontext von Welt schweben wir als Fixpunkte unter den Sternen, bereit alles zu ignorieren oder alles zu verantworten. So ist die objektive Wirkung von Mahlers Musik die Entfesselung des Selbst, die radikale Methode, um Freiheit zu verstehen durch: Horchen, Lauschen, Hoffen und Bangen auf das nächste Klangereignis wie auf einen Schicksalsschlag und Richterspruch über das eigene Leben.

Der Stil musikalischen Ausdrucks, mit dem solch Unerhörtes und Unerlebtes erklingt, ist vielleicht denkbar einfach: die konsequente Gegensätzlichkeit musikalischer Mittel bis zum Selbstwiderspruch, worauf Leonard Bernstein in seinem Aufsatz "Mahler – His Time Has Come" mit eindrucksvollen Worten hingewiesen hat. Er sprach von wahnsinnig gewordenen Chören, Pausen, die den Todesstoß vorbereiten, komplexe Polyphonie und kitschigen, seligmachenden Walzer- und Naturidyllen und alles oft in einem Werk, ja in einem Satz. Der Spannungsbogen muss weit genug sein, damit Platz für eine Welt entsteht - der Verdacht dem symphonischen Schaffen Mahlers liege eine philosophisch-ästhetische Dialektik zugrunde drängt sich geradezu auf.

Keiner hat diese höchste Form von Selbstwerdung schöner und intelligenter beschrieben als der Philosoph Peter Sloterdijk im ersten Band "Blasen" seiner Sphären-Trilogie in Kapitel 7 "Das Sirenenstadium – von der ersten sonosphärischen Allianz" – nebenbei gesagt ist dieses ganze Kapitel ein Wunder in deutscher Prosa, etwas, das man vielleicht den Franzosen zugetraut hätte, das aber überraschenderweise auf Deutsch möglich wurde. Doch hört selbst:

"Ich bin ein Tonbild, ein Vers-Blitz, eine dithyrambische Regung, gerafft in einer Anrede, die mir von früh auf vorsingt, wer ich sein kann. … Von der Antike an sind geschichtete Gesellschaften ruhmverteilende Systeme, die ihre öffentlichen Chöre mit den intimen Liederwartungen der Einzelnen synchronisieren. … Ich bin das Aufschäumen, der Klangblock, die befreite Figur, ich bin die schöne, die kühne Stelle, ich bin der Sprung in den höchsten Ton; die Welt klingt nach mir, wenn ich mich zeige, wie ich mir versprochen bin."

Wohin also nun mit Mahler? Oder hieße es besser wohin mit uns?
Mahler lebt als ein Löwe der Musik mitten unter uns. Die, die um seine Intensität wissen, hüten sich ihn zu oft aus seinem Käfig zu lassen, denn wenn er in die Manege unserer Gegenwart springt, raubt er uns alle kleinlichen und ängstlichen Gedanken hinter denen wir uns so oft bequem einrichten und gibt uns die Kraft das zu vollbringen, zu dem uns der Mut zuvor gefehlt hat.

Doch zu guter Letzt soll Mahler selbst zu Wort kommen und uns verraten, wie er seine Orchestermusiker auf die Musik vorbereitet – für mich klingt es nach einer Mischung der Filme "Fear and Loathing in Las Vegas" und "Fight Club" – Mahler:

"... durch den Terrorismus, durch den ich jeden einzelnen zwinge, aus seinem kleinen Ich herauszufahren und über sich selbst hinauszuwachsen."

(Bauer-Lechner, Erinnerungen an G. Mahler)

Müssen wir vor dieser Mischung aus künstlerischer Kraft und Naivität nicht ordentlich schmunzeln und sind wir unter unserer verlegenen Grimasse nicht ungeheuer neugierig – nein nicht auf die Musik – neugierig auf uns selbst geworden?

PS: Wer jetzt glaubt, hier wären sämtliche metaphorischen Pferde mit mir durchgegangen, wenn ich Mahlers Musik derart extrem ins Anthropologische und Kosmologische deute, dann will ich, um Zweifel im voraus zu vermeiden, ihn selbst noch einmal zu Wort kommen lassen und zwar mit dem, was er seinem Freund Mengelberg über seine 8e Sinfonie in einem Brief schrieb:

"Es ist das größte, was ich bis jetzt gemacht. Denken Sie sich, dass das Universum zu tönen und klingen beginnt. Es sind nicht mehr menschliche Stimmen, sondern Planeten und Sonnen, welche kreisen. ..."

Montag, 24. Juni 2013

Die verspätete Rezension zur Historie der Musik

oder warum Jean Michel Jarre keinen Fuß mehr in die Tür bekommt.
Zur Vorgeschichte der Musik, ihrer Urgeschichte vom Urknall angefangen, die selbstverständlich als ontologische Grundbedingung bis heute andauert, will ich mich nur kurz äußern. Asymmetrien führen zu Resonanzen, das Universum entsteht als schwingendes inhomogenes Etwas und in dieser Inhomogenität steckt "Musik", diese Inhomogenität ist "Musik", ist Sein, die Existenz selbst. – Deswegen fühlen wir uns so verloren ursprünglich, wenn wir plötzlich aus dem Takt geraten… unsere inhomogene Abkunft wird uns schlagartig bewusst und wir schämen uns, ohne es recht zu verstehen.

Kurz nach dem Beginn von allem machen sich Troubadoure durch die Provinzen Frankreichs auf dem Weg Gesänge voller Erregung und Sehnsucht anzustimmen. Seit den frühesten Zeiten brauchte man Musik um sich am Leben zu fühlen, war ein Leben ohne Musik ein "Irrtum".

Unromantische Wissenschaftler begannen bald darauf die kreislaufregulierenden Effekte von sensorischen Reizen, die über Schallwellen von (Klang-) Körper zu (Klang-) Körper übertragen werden zu erforschen. Wenn nicht, so sollten sie dies bald tun. Anlässe darüber hätte es schon unzählige gegeben seit den Gesängen des Orpheus in der Unterwelt, den Sirenen des Odysseus, um ganz zu schweigen von den Regelungen des Hormonspiegels von Menschen in der Neuzeit durch kollektive Hysterien ausgelöst von Kastratenstimmen, Sopran-, Tenor- und sogar Baßstimmen, Klavier- und Violinvirtuosen, Walzerartisten und nicht zu vergessen: die Beatlemania.

Sollte ich noch erwähnen, dass kein einziger Gott oder selbst die Buddhisten, die keinen Gott kennen ohne das Lock-, Intonations-, taktile und mentale Koordinationsmittel Musik auskommen? Jede Art von Trancezuständen, die durch Atmen, Summen, kehliges Oberstimmen-Oszillieren, Refrains, zu Trommeln kreisenden Suffis, den monotonen Singsang der einseitigen Lyra, der einen zum Wahnsinn treibt, außer natürlich die entzückten Naturvölker des südlichen Balkan und Nahen Ostens gehört zum entsetzlichen Ausmaß des Phänomens – hier ist ein Halt geboten.

Aber springen wir endlich zur Hauptfrage: Was macht die klassische Musik so wehrlos? Wodurch konnte sich bei den meisten Menschen die Pop-Kultur und die dazu passenden unzähligen Stilrichtungen populärer Musik durchsetzen? Diese Entwaffnung wurde durchaus durch die klassische Musik selbst, wenn nicht durch die niederschmetternden Erfahrungen zweier Weltkriege eingeleitet.

Die Menschen hatten massenhaft kollektive Erlebnisse von Brüchen, Traumata höchsten Ausmaßes, Verlusterlebnisse schlimmster Art von Angehörigen, Gewissheiten und Heimaten, die auch nur eine Sonderform von Gewissheit waren und sind zu bewältigen. Diese Erlebnisse konnten sich in den musikalischen Harmonien, zusammengesetzt aus den Geschichten und Geschichtchen von unzähligen Abfolgen von Kriegen und den immer darauf folgenden erlösenden Waffenstillständen des 18. Und 19. Jahrhunderts nicht mehr wiederfinden und ließen sich somit nicht in die Tradition musikästhetischer Selbsterfahrung einreihen. Ich unterscheide nicht zwischen Erlebnissen und Menschen, da Menschen die Tiere mit einer bestimmten Typologie von Erlebnissen sind, Erlebnisse, die sie als "Menschen" erkennbar machen und nichts weiter.

Die Notwendigkeit jedenfalls zum Umbruch, zum Heraustreten aus einer Hauptströmung wurde also unumgänglich. Dieser Bruch mit der bisherigen psychopolitischen, psychoästhetischen Existenzweise fand musikalisch auf dem Schlachtfeld des Rhythmus statt. Der Rhythmus unterbricht schon aus Prinzip, schon in seiner wesentlichen Funktion das musikalische Unisono, sein Schicksal ist damit existenzielles menschliches Schicksal – er strukturiert das musikalische Kontinuum des Lebens. Nennen wir es so: der Rhythmus ist eine Art musikalischer Heimat, die durch Unterteilungen trennt, differenziert, Identität stiftet, schöner gesagt, die das Feeling des Menschen über die Good Vibrations vermittelt. Damit war es aber spätestens nach dem Ende des 2. Weltkriegs erst einmal vorbei. Es konnte nicht wie bisher gelebt, genossen, gehört werden. Nicht zufällig drehten sich fortan alle Diskussionen in allen Gesellschaftsschichten um das richtige "Lebensgefühl".

So war es der abrupte Wandel des Rhythmus als die fundamentale Kunst der Unterbrechung, der durchaus geistvollen, kunstvollen Unterbrechung - man denke da an Strawinskis "Le sacre du printemps", die große Kreise noch traditionsgebundener Hörer dazu brachte sich über den heraufbrechenden Siegeszug des Jazz im 20. Jh. zu empören. Man handhabte den Rhythmus nun künftig freier, synkopischer, entdeckte sogar den Ragtime bei Beethoven oder wollte ihn entdecken. Die Tragödie der infernalischen Weltkriege hatte mit zwei unerhörten Paukenschlägen sich freilich längst vollzogen – das Stück von Schlaf, Entwicklung, Befreiung, Aufklärung und grausamster Ernüchterung hatte sich bereits abgespielt und zu Ende gespielt – nur die noch Benommenen hatten zunächst Mühe dies zu erkennen.


Als Jean Michel Jarre die musikalische Weltbühne betrat mit den Alben "Oxygen" (1976) und "Equinoxe" (1978) und mit dem allerersten Anwenden der Samplingtechnik im Album "Magnetic Fields" von 1981 ein Jahr vor Tron und vor dem C64 faszinierte er durch Synthesizerklänge, die in ihrer Polyphonie die alte klassische Welt imitierten und beinahe parodierten. Stilistisch blieb er der Polyphonie treu und damit verharrte er zwischen den Welten der klassischen Musik und des Pop. Sein verzweifelter Versuch aus seinem ersten Album eine Modernisierung im Stil des Trance zu schaffen schlug im Jahre 1997 fehl und nahm seiner Musik ihre authentische Substanz, die eben aus der Mischung einer alten Architektur mit dem neuartigen synthetischen Klang bestand und bis heute so gültig ist. Dabei ist es bezeichnend, dass genau im selben Jahr 1997 das Schweizer Duo YELLO das stilbildende Trance Album "Pocket Universe" herausbrachte.

Und die klassische Musik? Unsere geliebte Klassik nach all den vielen Jahrhunderten ihrer Entwicklung bis zu ihrem vielleicht letzten großen Vertreter Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch (1906-1975) ist in Wahrheit Archäologie, genießbar immernoch, aber als Vergangenheit, während die heutige einzig verbliebene Kunstform in Tönen die Popmusik, eine Musik unserer postheroischen Zeiten, Musik des Ambientes, Ambient Music ist. Deren einzigartige ätherische Unberührtheit geht zum menschlichen Schicksal auf heilsame Distanz. Gruppen wie Nightmares on Wax oder Aural Float erlösen mit pulsierenden Rhythmen, Klangteppichen und schwerelosen Vokalen.

So bleibt mir am Ende weder eine dramaturgische, noch eine theatralische Geste zu einem abschließenden Resumée oder einer alles bezeichnenden Schlußfolgerung übrig. Die Überlegungen wiegen sich in der lauen Luft des Abends. Die Klänge verbleiben periphär und unverbindlich. Alles Konkrete ist als Maskerade aus den Tonstudios dieser Welt verbannt und die schönsten Klangfarben schmeicheln unseren empfindsamen Ohren.

Das Schicksal der Musik im Schnelldurchlauf

Es gab eigentlich genug Leute, die auch vor mir am Schicksal der Musik gelitten haben. Aber wenn die Musik ein Schicksal hat, sollte man sich schon ein paar Gedanken machen, was ihr Schicksal mit dem Schicksal der Menschheit verknüpft, wo es Korrelate gibt und wie weit die gegenseitige Verwobenheit geht.

Eine "Temperatur der Geschichte" sollte auch das musikalische  Biotop aus menschlichem Körper, menschlichem Ohr und Klangraum untersuchen und zwar so weitgespannt wie möglich und pointiert wie nötig.

Ich will vom 12. Jh. beginnen und im 20. Jh. enden bei Jean Michel Jarre, Aural Float usw.

Heute Abend ist das Ding im Kasten - pardon im Blog.
:-)

Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik hat längst stattgefunden!



Meine Antwort an Nietzsche

Diese Tragödie fand statt, als sich die Musik langsam aber sicher seit dem 12. Jahrhundert von ihrem rituell disziplinierten Daseinszustand des Kirchengesangs kontinuierlich über die Renaissancemusik, den ersten Opern Monteverdis, der Musik des ganzen Barock hinaus und hinauf zur absoluten Musik der Klassik und Romantik emporhob.
Vielleicht hätte die ganze Epoche der Renaissance nicht stattgefunden ohne die musikpsychologische Vorbereitung der menschlichen Seelen, die auf den Empfang des Ungewohnten, Faszinierenden und Überwältigenden musikalisch zuvor eingestimmt worden waren.
Die Dezimierung der Bevölkerung durch Seuchen ist die eine Sache, ist die Grundlage für das danach anbrechende Fest der Überlebenden. Dieses Fest als Triumph des Lebens über den Tod brachte die Notwendigkeit und das Momentum der anderen Sache mit sich, ohne die kein Fest zu machen ist: der Musik. Die Musik wiederum hat durch den Rausch der Sinne den Geist aus der scholastischen Zwangsjacke entfesselt. Incipit Tragoedia.